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Briefing

Leit­entscheidungs­verfahren beim Bundes­gerichtshof

Am 5. Juni 2023 hat das Bundesministerium der Justiz den Referenten­entwurf​ eines Gesetzes zur Einführung eines Leitentscheidungs­verfahrens beim Bundes­gerichtshof vorgelegt. Wir beleuchten, ob es der erhoffte Baustein zur schnelleren Rechtssicherheit und Entlastung der Zivilgerichte in Massen­verfahren sein kann.

Massen­verfahren im Fokus des Gesetz­gebers

Spätestens seitdem die sog. Diesel­verfahren massenhaft an praktisch allen deutschen Gerichten anhängig sind, wird über den drohenden „Kollaps der Ziviljustiz“ diskutiert. Es stehe zu befürchten, dass die Richterschaft die Belastungen durch massenhafte Individual­verfahren nicht mehr bewältigen könne. Aus diesem Grund fand am 10. Mai 2023 eine öffentliche Anhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags zu einem auf Vorschlägen des Deutschen Richterbundes basierenden Oppositions­antrag statt, der unter anderem die Einführung eines sog. Vorab­entscheidungs­verfahrens zum Bundes­gerichtshof bereits aus der 1. Instanz heraus vorschlug. Hiermit soll die Rechtslage schneller höchstrichterlich geklärt werden können. Während das Vorab­entscheidungs­verfahren beim Bundes­gerichtshof läuft, sollen anhängige Parallel­verfahren in den unteren Instanzen ausgesetzt werden. Die Vor- und Nachteile einer solchen Vorabentscheidung wurden kontrovers diskutiert, etwa die Gefahren aus einer drohenden Über­beschleunigung in Massenverfahren, die sich zu Lasten der Rechts­suchenden auswirken kann.

Leit­entscheidungs­verfahren als Mittel zur schnelleren höchst­richterlichen Klärung

Das Bundes­justiz­ministerium hat nun einen anderen Weg gewählt und am 5. Juni 2023 einen Referenten­entwurf für ein Gesetz zur Einführung eines Leit­entscheidungs­verfahrens beim Bundesgerichtshof vorgelegt. Mit dem Leit­entscheidungs­verfahren soll eine zügige Klärung von Rechtsfragen mit Breitenwirkung insbesondere in Massenverfahren ermöglicht werden. Zudem will der Entwurf verhindern, dass höchstrichterliche Entscheidungen aufgrund prozesstaktischer Revisions­beendigungen ausbleiben.

Hierzu soll der Bundesgerichtshof aus bereits anhängigen Revisionen nach Eingang der Revisions­erwiderung bzw. einer dafür gesetzten Frist geeignete Verfahren als Leit­entscheidungs­verfahren auswählen. In diesen Verfahren soll dann ein möglichst breites Spektrum offener Rechtsfragen entschieden werden können. Führen die Parteien ein Leit­entscheidungs­verfahren fort, wird das Verfahren durch reguläres Revisionsurteil beendet. Kommt es hingegen zu einer Verfahrens­beendigung durch Revisions­rücknahme, etwa nach einem Vergleich, entscheidet der Bundesgerichtshof über die Rechtsfragen durch Beschluss in Form der Leitentscheidung. Die Leitentscheidung hat weder für die konkreten (ehemaligen) Parteien noch im Übrigen Bindungswirkung. Sie soll vielmehr als Richtschnur und Orientierung in Parallelverfahren dienen. Diese Parallel­verfahren können zudem mit Zustimmung der Parteien ausgesetzt werden, während beim Bundes­gerichtshof ein Leit­entscheidungs­verfahren anhängig ist. Mit dem Leit­entscheidungs­verfahren will der Gesetzgeber die Rechtssicherheit für Betroffene und Rechtsanwender erhöhen und zugleich die Gerichte in den unteren Instanzen von weiteren Klagen entlasten.

Weitgehende Wahrung der Parteirechte

Der Gesetzesentwurf ist ersichtlich darum bemüht, die Parteirechte so weit wie möglich zu erhalten. Denn das Verfahren läuft hinsichtlich des konkreten Einzelfalls regulär weiter, solange die Parteien es betreiben. Eine instanzverkürzende Vorabentscheidung gibt es gerade nicht, zudem können Parallel­verfahren ausschließlich mit Zustimmung der Parteien ausgesetzt werden. Das ist zu begrüßen, weil auf diese Weise die gegebenenfalls erforderliche weitere Sachverhalts­aufbereitung und rechtliche Ausdifferenzierung verschiedener Sachverhalts­varianten in den Instanzen nicht durch eine „vorzeitige“ Entscheidung des Revisionsgerichts unterbunden wird. Zudem steht fest, dass sich der Bundes­gerichtshof in der Sache äußern kann, sobald ein Verfahren als Leit­entscheidungs­verfahren bestimmt ist. Damit entfällt das richterliche Bedürfnis für das gelegentlich zu beobachtende Phänomen, dass der Bundesgerichtshof mit teils überraschenden und vereinzelt sogar mit Leitsätzen versehenen Hinweisbeschlüssen zur Rechtslage Stellung nimmt, bevor die Parteien ein Verfahren beenden. Insoweit kann man von einer Stärkung des rechtlichen Gehörs sprechen.

Auswirkungen offen

Insgesamt ist jedoch zweifelhaft, ob die mit dem Entwurf verfolgten Ziele erreicht werden können. Da der Bundesgerichtshof die Leit­entscheidungs­verfahren aus den anhängigen Revisionen auswählt, ist eine Beschleunigung „auf dem Weg“ zum Bundes­gerichtshof nicht zu erwarten. Zudem ist eine prozesstaktische Einflussnahme auf den Verfahrensbestand beim Bundesgerichtshof bis zum Ablauf der Revisions­erwiderungsfrist weiterhin möglich. Bei Einführung des Leit­entscheidungs­verfahrens ist ohnehin damit zu rechnen, dass taktische Erwägungen zur Verfahrens­beendigung in verstärktem Umfang in den vorherigen Instanzen angestellt und umgesetzt werden. Außerdem wird das Leit­entscheidungs­verfahren als solches nichts daran ändern, dass es gegebenenfalls zahlreicher höchstrichterlicher Entscheidungen bedarf, um die Rechtslage in einem Massensachverhalt weitgehend zu klären. Das war etwa in den „Dieselfällen“ zu beobachten.

Ein Fragezeichen steht ebenso hinter der neu geschaffenen Aussetzungs­möglichkeit. Der Gesetzesentwurf selbst erwartet hierdurch lediglich geringfügige Entlastungen für die Instanzgerichte. Das dürfte realistisch sein, denn die erforderliche Zustimmung für eine Aussetzung erscheint für die Parteien wenig attraktiv. Ist sie einmal erteilt, ist die Fortsetzung des Verfahrens auf Antrag einer Partei frühestens nach einem Jahr möglich und dies nur, wenn keine gewichtigen Gründe gegen die Aufrechterhaltung der Aussetzung sprechen (so der Verweis auf § 149 Abs. 2 ZPO in § 148 Abs. 4 ZPO-E). Statt einer solchen Aussetzung können die Parteien schon heute ein Verfahren bei laufender höchstrichterlicher Klärung in einem Parallelprozess nach § 251 ZPO ruhend stellen und ohne Einschränkungen wieder aufnehmen. Das ist aus Parteisicht vorzugswürdig, sodass keine hohe Zahl von Aussetzungen gemäß der neu geschaffenen Möglichkeit zu erwarten ist.

Offen erscheint weiter, ob es überhaupt zu Leitentscheidungen durch Beschluss nach einer Verfahrensbeendigung durch die Parteien kommen wird. Denn solche Beschlüsse ergehen ohne mündliche Verhandlung. Die Parteien wissen aber wegen der Bestimmung ihres Falles zur Leitentscheidung, dass über die sie betreffenden Rechtsfragen zwingend durch den Bundes­gerichtshof entschieden werden wird. Dann liegt es nahe, dass sie ihre Revisionsverfahren regulär fortführen. Nur so können sie sich nämlich sämtliche Einflussrechte bewahren und insbesondere ihren Standpunkt im Rechtsgespräch in der mündlichen Verhandlung vertreten. Wegen dieses mittelbaren Drucks auf die Parteien dürfte die mit den ausgewählten Leitentscheidungsverfahren bezweckte Rechtsklärung überwiegend in Form regulärer Urteile erfolgen.

Tiefgreifende Auswirkungen wird der Gesetzesentwurf daher insgesamt eher nicht hervorrufen. Anders sieht es für Massenverfahren im kollektiven Rechtsschutz aus: Hier wird mit Spannung die Umsetzung der Verbandsklagenrichtlinie erwartet, mit der die Abhilfeklage als neue kollektive Leistungsklage eingeführt wird.

Neben der beim Leit­entscheidungs­verfahren im Vordergrund stehenden schnelleren höchstrichterlichen Klärung besteht im Bereich der massenhaften Individualverfahren viel Spielraum für Effizienzsteigerungen, die insbesondere eine verstärkte Digitalisierung und zeitgemäße Ausstattung der Justiz erfordern. Die diskutierten Reformen zeigen jedenfalls: Massenklagen sind und bleiben im Fokus des Gesetzgebers, was ihre wachsende Bedeutung in der Rechtspraxis zutreffend widerspiegelt.

Leitentscheidungsverfahren beim Bundesgerichtshof
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