Briefing
Entwurf zur neuen Sammelklage in Deutschland – Erster Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums zur Umsetzung der Europäischen Verbandsklagerichtlinie
Der mit Spannung erwartete erste Referentenentwurf des Bundesjustiz-ministeriums zur Verbandsklage liegt jetzt vor.
Durch diesen Entwurf soll die europäische Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher in nationales Gesetz umgesetzt werden.[1] Der Entwurf sieht insbesondere vor, dass Verbraucher nicht nur wie bisher im Wege von Unterlassungsklagen oder Musterfeststellungsklagen gegen Unternehmen vorgehen können, sondern auch im Wege einer kollektiven Abhilfeklage. Die damit einhergehende Einführung einer kollektiven Leistungsklage stellt ein echtes Novum im deutschen Zivilrecht dar.
Wir beleuchten die Kernpunkte des Referentenentwurfs und widmen insbesondere den Themen unsere Aufmerksamkeit, welche Neuregelungen zu bisher bekannten Mechanismen enthalten.
I. Umsetzungsvorschläge im Gesetzentwurf
1. Ausbau der Musterfeststellungsklage zur Abhilfeklage
Der Entwurf besteht im Wesentlichen aus einem neuen sog. „Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz“ (VDuG), mit dem die Richtlinienvorgaben zur Abhilfeklage umgesetzt werden sollen. Mit der Musterfeststellungsklage konnten qualifizierte Einrichtungen bislang schon die gerichtliche Feststellung von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen beantragen. Der Entwurf will diese Möglichkeit auch zukünftig weiterhin gewährleisten. Daher werden die Regelungen zur Musterfeststellungsklage in das VDuG integriert und eine zusätzliche Möglichkeit zur Abhilfeklage geschaffen. Mit der neuen Abhilfeklage können klageberechtigte Stellen nunmehr auch gegen Unternehmen gerichtete Ansprüche von Verbrauchern auf Leistung (Zahlung oder eine andere Leistung) geltend machen.
Die Klagepartei kann zukünftig auswählen, ob sie mit einer Abhilfeklage auf Leistung oder mit einer Musterfeststellungsklage auf Feststellung klagt.
Daneben wird in dem Entwurf auch das Unterlassungsklageverfahren an die Voraussetzungen der Richtlinie angepasst.
2. Klageberechtigte Stellen
Wie bereits bei der bisherigen Musterfeststellungsklage sind die Verbraucher selbst nicht klageberechtigt. Nur besondere Stellen, die von den Mitgliedstaaten benannt worden sind und bestimmte Voraussetzungen erfüllen, können für Verbraucher Klage erheben. Die Kriterien, welche solche qualifizierten Verbraucherverbände erfüllen müssen, um klageberechtigt zu sein, sind diejenigen, die auch bisher für die Musterfeststellungsklage galten. Sie müssen also als Mitglieder mindestens zehn Verbände, die im gleichen Aufgabenbereich tätig sind oder mindestens 350 natürliche Personen vertreten und seit mindestens vier Jahren registriert sein. Ihre Tätigkeit muss sich auf die Aufklärung und Beratung von Verbrauchern richten und sie dürfen nicht mehr als 5 Prozent ihrer finanziellen Mittel durch Zuwendungen von Unternehmen erhalten. Untersagt ist zudem das Führen einer Verbandsklage rein zur Gewinnerzielung. Die Gerichte können die Offenlegung der finanziellen Mittel verlangen.
Neu ist, dass auch qualifizierte Einrichtungen aus anderen Mitgliedstaaten, die die dortigen Voraussetzungen erfüllen und im neuen europäischen Verzeichnis eingetragen sind, eine Verbandsklage in Deutschland erheben dürfen. Die Richtlinie sieht die grenzüberschreitende Erhebung von Verbandsklagen ausdrücklich vor. Mehrere Verbände können gemeinsam – auch grenzüberschreitend – als Streitgenossen klagen.
3. Opt-In
Wenig überraschend ist, dass nach dem Entwurf in Deutschland ein sog. Opt-In vorgesehen ist. Das heißt ein betroffener Verbraucher wird nicht automatisch Teil der Verbandsklage, sondern muss sich aktiv daran beteiligen. Als besondere Zulässigkeitsvoraussetzung ist nun vorgesehen, dass bereits bei Klageerhebung glaubhaft gemacht werden muss, dass die Ansprüche von mindestens 50 Verbrauchern von der Klage betroffen sind.
Um von der Bindungswirkung profitieren zu können, müssen sich Verbraucher spätestens bis zum Ablauf des Tages vor Beginn des ersten Termins einer mündlichen Verhandlung zum Verbandsklageregister anmelden. Insoweit setzt der Entwurf die derzeitige Regelung für Musterfeststellungsklagen fort.
Wie bereits im Koalitionsvertrag angekündigt, wurde der Anwendungsbereich über den reinen Verbraucherschutz hinaus auf kleine Unternehmen erweitert, also Unternehmen, die weniger als 50 Personen beschäftigen und deren Jahresumsatz oder Jahresbilanz 10 Millionen Euro nicht übersteigt. Auch diese können durch die klageberechtigten Stellen vertreten werden.
Die Anmeldung zum Verbandsklageregister ist kostenlos. Dadurch können Verbraucher und kleine Unternehmen von den Wirkungen der Verbandsklage profitieren, ohne selbst ein Prozesskostenrisiko einzugehen.
Beklagteninteressen soll nach der Entwurfsbegründung dadurch Rechnung getragen werden, dass ein klagewabweisendes Urteil ebenfalls Bindungswirkung für alle angemeldeten Verbraucher und Kleinunternehmen entfaltet. Eine Individualklage soll nach klageabweisendem Urteil nicht mehr möglich sein.
4. Gleichartigkeit der Ansprüche
Voraussetzung für die Zulässigkeit der neuen Abhilfeklage ist, dass die Ansprüche gleichartig sind. Gleichartig sollen die Ansprüche dann sein, wenn sie auf demselben Sachverhalt oder einem vergleichbaren Sachverhalt beruhen und für sie die gleichen Tatsachen- und Rechtsfragen entscheidungserheblich sind. Gemäß der Entwurfsbegründung ist „ein Grad der Ähnlichkeit der Ansprüche erforderlich, der eine schablonenhafte Prüfung“ in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zulässt.
Dieses Merkmal wird aller Voraussicht nach in Zukunft immer wieder zu Diskussionen führen. Als Beispiel dafür, dass entscheidungserhebliche Tatsachen voneinander abweichen und damit keine Gleichartigkeit vorliegt, wird in der Entwurfsbegründung der Fall genannt, dass nicht alle Produkte einer Serie mangelhaft sind und dies im Einzelfall geklärt werden muss. Als Beispiel für einen Fall, bei dem eine Gleichartigkeit aufgrund unterschiedlicher Rechtsfragen ausscheidet, wird der Fall genannt, dass einige betroffene Verbraucheransprüche schon verjährt sein können, andere aber noch nicht.
Soweit zwar gleichartige Ansprüche vorliegen, diese aber der Höhe nach variieren, muss sich jedenfalls die jeweilige Foderungshöhe anhand derselben Formel berechnen lassen.
5. Abhilfeentscheidung in drei Phasen
Der Entwurf sieht vor, dass sich die Abhilfeentscheidung in drei Phasen unterteilt:
(1) Die erste Phase endet mit einem Abhilfegrundurteil, indem das Oberlandesgericht die Haftung des Unternehmens dem Grunde nach für gerechtfertigt erklären oder die Klage abweisen kann.
(2) In der Vergleichsphase sollen die Parteien eine gütliche Einigung zur Umsetzung des Abhilfegrundurteils anstreben.
(3) Sofern kein Vergleich zustande kommt, erlässt das Gericht ein Abhilfeendurteil. Daran anschließend beginnt die Umsetzungsphase.
Spannend bleibt die Frage, in welcher Höhe das Abhilfeendurteil ergehen kann. Vorgesehen ist, dass das Gericht die Höhe des kollektiven Gesamtbetrags unter Würdigung aller Umstände nach frei bestimmt, wobei die klagende Stelle dem Gericht konkrete Anhaltspunkte geben soll, auf die es seine Schätzung stützen kann. Das Gericht darf bei seiner Schätzung unterstellen, dass alle angemeldeten Ansprüche in voller Höhe berechtigt sind. Eine Benachteiligung von Unternehmen sei nach der Entwurfsbegründung hier nicht zu sehen, da ein etwaiger Restbetrag nach Prüfung aller Verbraucheransprüche und Kostenabrechnung an sie zurückerstattet würde. Dass das verurteilte Unternehmen hier zunächst einmal den ausgeurteilten Betrag bereithalten muss, wird akzeptiert.
Sofern sich der kollektive Gesamtbetrag im Laufe des Umsetzungsverfahrens als zu niedrig erweisen sollte, kann das Gericht auf Antrag den Betrag auch nochmals erhöhen.
6. Einsetzung eines Sachwalters zur Umsetzung
Neu ist außerdem, dass die Abhilfeentscheidung des Gerichts maßgeblich durch einen Sachwalter umgesetzt werden soll. Dieser soll die Anspruchsberechtigung der am Umsetzungsverfahren teilnehmenden Verbraucher nach Maßgabe des Abhilfegrundurteils des Gerichts prüfen. Er errichtet einen Umsetzungsfonds und verteilt das Geld, welches das Gericht im Urteil ermittelt hat, an die Verbraucher.
Um seine Aufgaben bewältigen zu können, soll der Sachwalter speziell im Entwurf geregelte Befugnisse erhalten. Beispielsweise kann er ergänzende Erklärungen der Verbraucher oder des Unternehmers verlangen und zu diesem Zweck auch Fristen setzen. Außerdem soll er die Erfüllung geltend gemachter Ansprüche von Verbrauchern ganz oder teilweise ablehnen können.
Laut Entwurfsbegründung kommen als Sachwalter zum Beispiel Rechtsanwälte, Steuerberater, Betriebswirte, Insolvenzverwalter oder Wirtschaftsprüfer in Betracht. Insbesondere bei umfangreicheren Verfahren könne dies durchaus bedeuten, dass Berufsträger in Betracht kommen, welche über einen größeren geschulten Mitarbeiterstab sowie entsprechende „Legal Tech Tools“ verfügen. Die Einsetzung eines Sachwalters soll ganz offensichtlich der Realität Rechnung tragen, dass gerade die Umsetzung eines Kollektivurteils sehr komplex sein kann.
7. Offenlegung von Beweismitteln
Obwohl die Richtlinie in der Terminologie insoweit noch an das discovery-Verfahren nach US-amerikanischen Vorbild erinnerte, ist der Entwurf hier zurückhaltend. Nach dem deutschen Zivilprozessrecht kann ein Gericht bereits jetzt unter bestimmten Voraussetzungen die Vorlage von Urkunden, sonstigen Unterlagen, Akten sowie Gegenständen anordnen. Der Entwurf geht zutreffend davon aus, dass durch diese Regelungen die Vorgaben der Richtlinie bereits umgesetzt sind.
Neu einzuführen war allerdings die Regelung, dass das Gericht Sanktionen unter anderem in Form von Geldbußen, anordnen kann, wenn eine entsprechende gerichtliche Anordnung nicht befolgt wird. Nach bisherigem Recht sind Verstöße der (regelmäßig) beklagten Partei gegen Vorlagepflichten „nur“ im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Bislang bestand die Sanktion also darin, dass die Nichtvorlage entsprechender Beweismittel regelmäßig zu Lasten der jeweiligen Partei gewürdigt werden kann. Dies bleibt auch weiterhin so. Hinzu kommt nun die – gegebenenfalls wiederholdend mögliche – Festlegung eines Bußgeldes, welche insbesondere auch mit einer entsprechenden negativen Öffentlichkeitswirkung verbunden sein kann.
8. Zuständiges Gericht
Grundsätzlich ist laut Entwurf das Oberlandesgericht für die Verbandsklage zuständig, in dessen Gerichtsbezirk das beklagte Unternehmen seinen Sitz hat. Mit dem Ziel, die Effizienz des Verfahrens zu steigern und die Qualität der Entscheidungen zu erhöhen, werden zudem die Landesregierungen ermächtigt, die örtliche Zuständigkeit für Verbandsklagen zu konzentrieren. Sofern die Landesgesetzgeber von dieser Ermächtigung Gebrauch machen, könnten dadurch spezialisierte besondere Gerichte für Verbandsklagen entstehen. Europäische Vorschriften bleiben unberührt.
9. Klagefinanzierung
Um Interessenkonflikten vorzubeugen und Missbrauch zu vermeiden hat bereits der europäische Gesetzgeber im Hinblick auf die Finanzierung einen gewissen Rahmen abgesteckt. Einerseits soll die Finanzierung der Klage durch Dritte grundsätzlich möglich sein, andererseits sollen aber diejenigen, die ein wirtschaftliches Interesse an der Erhebung der Klage oder am Ausgang des Rechtstreits haben, den Verlauf des Verfahrens durch ihre Prozessfinanzierung nicht ungebührlich beeinflussen können. Ausgeschlossen ist somit die Finanzierung durch Wettbewerber des verklagten Unternehmens, durch Personen, die vom verklagten Unternehmen abhängig sind oder wenn zu erwarten ist, dass der Dritte die Prozessführung einschließlich der Entscheidungen über Vergleiche zu Lasten der Verbraucher beeinflussen wird. Die Gerichte können die Herkunft der Mittel überprüfen.
10. Verjährung
Die Regelung zur Hemmung der Verjährung bei Abhilfe- und Musterfeststellungsklagen entspricht der bisherigen Regelung für Musterfeststellungsklagen. Eine solche Klage hat nur verjährungshemmende Wirkung für die Verbraucher, die ihre Ansprüche oder Rechtsverhältnisse wirksam zum Verbandsklageregister anmelden und damit an der Klage teilnehmen (die Anmeldung soll weiterhin nur bis zum Ende des Tages vor der ersten mündlichen Verhandlung möglich sein). Die Verjährung bei Abhilfeklagen soll dabei nach der Begründung immer für den gesamten Anspruch gehemmt werden, unabhängig davon, ob die Ansprüche durch die Abhilfeklage in vollem Umfang oder nur teilweise geltend gemacht werden.
Auch in einem anderen Mitgliedstaat erhobene Unterlassungs- oder Abhilfeklagen sollen die Verjährung in Deutschland hemmen. Beachtlich ist jedoch, dass dabei (anders als bei den innerdeutschen Verfahren) die Reichweite auf Unterlassungs- und Abhilfeklagen beschränkt wird, die auf Zuwiderhandlungen gegen Verbraucherschutzgesetze gerichtet sind, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie (dabei insbesondere dessen Anhang I) fallen.
Wie auch bezüglich anderer Verfahrensarten üblich und anerkannt, soll die Hemmung der Verjährung sechs Monate nach Beendigung des Verbandsklageverfahrens enden. Die Hemmung der Verjährung eines Anspruchs eines Verbrauchers endet auch sechs Monate nach dem Zeitpunkt, zu dem der Verbraucher nicht mehr an der Klage teilnimmt, insbesondere durch die Rücknahme der Anmeldung zum Verbandsklageregister.
II. Fazit
Dieser Referentenentwurf geht nun in die Ressortabstimmung. Im Anschluss daran erfolgen die Vorlage und der Beschluss des Bundeskabinettes. Das genaue Datum der Kabinettssitzung ist noch nicht bekannt. Der Referentenentwurf durchläuft sodann das parlamentarische Verfahren, sodass er noch vor Ablauf der Umsetzungsfrist am 25. Dezember in Kraft treten kann. Bis zur endgültigen Fassung werden daher noch verschiedene Protagonisten einen Blick auf den Entwurf werfen, was noch zu weiteren Anpassungen der Vorschriften führen könnte.
Aus Unternehmenssicht kann insbesondere die vorgesehene Schätzung des Höchstbetrags durch das Gericht bei der Festlegung der Schadenshöhe eine hohe Belastung darstellen. In der Praxis wird es nicht der Normalfall sein, dass alle geltend gemachten Ansprüche auch in vollem Umfang berechtigt sind. Andererseits kann auch die etwaige Nachschusspflicht für das beklagte Unternehmen zu Unsicherheiten führen.
Interessant ist darüber hinaus insbesondere auch, was der Entwurf nicht regelt. Parallel zur Abhilfe- oder Musterfeststellungsklage werden nämlich auch weiterhin Einzelverfahren insoweit zulässig sein, als sich Verbraucher und kleine Unternehmen nicht bei der Abhilfe- oder Musterfeststellungsklage angeschlossen haben. Auch wenn in der Entwurfsbegründung an verschiedenen Stellen erwähnt wird, dass die Gerichte im Hinblick auf die massenweise Individualklagen entlastet werden sollen, werden Klägerkanzleien und Prozessfinanzierer auch weiterhin genügend Anreiz haben, diese parallel zu erheben.