Briefing
Die Reform der EU-Gerichtsverfassung: Vorabentscheidungsverfahren am EuG, Ausweitung der zulassungspflichtigen Rechtsmittel und ein Quantum Transparenzgewinn
Zum 1. September 2024 tritt die Verordnung Nr. 2024/2019 (Änderungs-Verordnung) zur Änderung der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH-Satzung) in Kraft (veröffentlicht am 12. August 2024 im Amtsblatt L). Die Novelle bringt einige für die Praxis bedeutsame Neuerungen mit sich. Mit seiner Justizreform zielt der EU-Gesetzgeber im Wesentlichen auf eine Entlastung des EuGH. Daneben hat er sich die Stärkung der Transparenz des Vorabentscheidungsverfahren auf die Fahnen geschrieben. Zeitgleich mit der Reform der EuGH-Satzung sind auch Anpassungen in den Verfahrensordnungen von EuGH (EuGH-VerfO) und EuG (EuGH-VerfO) im Amtsblatt verkündet worden. Sie treten wie die Satzung am 1. September 2024 in Kraft.
I. Wesentliche Eckpunkte der Reform
Die vom EuGH bereits im November 2022 angestoßene[1] Änderung der EuGH-Satzung fußt im Wesentlichen auf drei Säulen:
- Erstmalige Übertragung der Zuständigkeit für bestimmte Vorabentscheidungsersuchen auf das EuG (unter 1.),
- Erweiterung des Katalogs zulassungspflichtiger Rechtsmittel (unter 2.) sowie
- eine Regelung zur Veröffentlichung von Schriftsätzen (unter 3.).
Weitere Elemente der Reform bilden die Erweiterung des Kreises der in Vorabentscheidungsverfahren zur Stellungnahme berechtigten Akteure, die Einführung von Berichtspflichten des EuGH und die Einsetzung eines jährlichen Dialogs zwischen Parlament und EuGH über die Funktionsweise des Justizsystems der Union.
Die zeitgleichen Anpassungen der Verfahrensordnungen von EuGH und EuG tragen diesen Änderungen auf Satzungsebene Rechnung. Darüber hinaus hat der EuGH mit der Änderung seiner Verfahrensordnung die während der Covid-19-Pandemie gesammelten Erfahrungswerte aufgegriffen und etwa die Teilnahme an Verhandlungen per Videokonferenz (Art. 78 EuGH-VerfO n. F.) und die Übertragung von öffentlichen Sitzungen, Schlussanträgen und Urteilsverkündungen im Internet (Art. 80a EuGH-VerfO n. F.) in einen dauerhaften Rechtsrahmen überführt.
1. Übertragung von Vorabentscheidungsverfahren auf das EuG
Art. 50b der neuen EuGH-Satzung enthält die zentrale Neuerung zur Entlastung des EuGH: Vorabentscheidungsersuchen auf spezifischen Sachgebieten können zukünftig durch das EuG entschieden werden.
a) Die Neuregelung
Vorabentscheidungsersuchen sind unverändert an den EuGH zu richten. Dessen Präsident beurteilt nach Anhörung des EuGH-Vizepräsidenten und des Ersten Generalanwalts die Zuständigkeit (Art. 50b Abs. 3 EuGH-Satzung n. F.; Art. 93a EuGH-VerfO n. F.). Fällt das Ersuchen ausschließlich in eines oder mehrere der folgenden Sachgebiete,[2] wird das Verfahren grundsätzlich an das EuG verwiesen:
- Gemeinsames Mehrwertsteuersystem
- Verbrauchsteuern
- Zollkodex
- Zolltarifliche Einreihung von Waren in die Kombinierte Nomenklatur
- Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Flug- und Fahrgäste im Fall der Nichtbeförderung, bei Verspätung oder bei Annullierung von Transportleistungen
- System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten.
Eine Ausnahme gilt für Vorabentscheidungsersuchen, die zwar die aufgeführten Sachmaterien betreffen, aber „eigenständige Fragen der Auslegung des Primärrechts, des Völkerrechts, der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts oder der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufwerfen“ (Art. 50b Abs. 2 EuGH-Satzung n. F.). Die Beantwortung solcher Ersuchen bleibt dem EuGH vorbehalten. Das EuG kann wiederum ihm zugewiesene Verfahren an den EuGH zurückverweisen, wenn eine Grundsatzentscheidung (Art. 256 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV) oder sich das EuG für unzuständig hält (Art. 54 Abs. 2 EuGH-Satzung n. F.; Art. 114a und 114b EuGH-VerfO n. F.; Art. 207 EuG-VerfO n. F.).
Der eigentliche Ablauf eines Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuG (Art. 196 ff. EuG-VerfO n. F.) unterscheidet sich nicht wesentlich vom Ablauf solcher Verfahren am EuGH (Art. 93 ff. EuGH-VerfO). Insbesondere werden fortan auch am EuG Generalanwälte eingesetzt (Art. 3 Abs. 3, 30 ff. EuG-VerfO n. F.). Eine Überprüfung von Vorabentscheidungen des EuG durch den EuGH kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht, wenn die ernste Gefahr besteht, dass die Einheit oder Kohärenz des Unionsrechts berührt wird, und erfolgt zudem nur auf Vorschlag des Ersten Generalanwalts des EuGH (Art. 256 Abs. 3 UAbs. 3 AEUV i. V. m. Art. 62 EuGH-Satzung i. V. m. Art. 194 EuGH-VerfO).
b) Auswirkungen für die Parteien eines dem EuGH vorgelegten Verfahrens
Für die Beteiligten eines Vorabentscheidungsverfahrens gehen die auslegungsbedürftigen und wertungsoffenen Zuständigkeitsregelungen mit einer gewissen Unsicherheit darüber einher, welches Gericht schlussendlich über das Vorabentscheidungsersuchen entscheiden wird. Die Möglichkeit einer Zurückverweisung an den EuGH birgt zudem das Potential für Zuständigkeitskonflikte zwischen den Gerichten, die das Verfahren in die Länge ziehen. Es steht immerhin zu hoffen, dass die speziell für Vorabentscheidungsverfahren vorgesehenen Kammern am EuG (Art. 50b Abs. 4 EuGH-Satzung n.F.) eine Sonderexpertise auf den sechs Sachgebieten entwickeln und Verfahren deshalb schneller entscheiden, als es am EuGH der Fall gewesen wäre.
Auf eine „zweite Instanz“ in Vorabentscheidungsverfahren sollten Parteien angesichts der hohen Hürden für eine Überprüfung der EuG-Entscheidung durch den EuGH, die zudem in der Hand des Ersten Generalanwalts liegt, allerdings nicht hoffen. Wenn unbedingt eine Entscheidung des EuGH gewünscht ist, muss das EuG schon im laufenden Verfahren von der Notwendigkeit einer Grundsatzentscheidung überzeugt werden.
c) Entlastung durch ein komplexes Zuständigkeitsverfahren – kann das funktionieren?
Im Jahr 2023 sind 518 Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH anhängig gemacht worden, was einem Anteil von 63 % der insgesamt neu erfassten Rechtssachen entsprach.[3] Der Änderungsvorschlag des EuGH zur EuGH-Satzung ging davon aus, zukünftig etwa 20 % der Vorabentscheidungsverfahren an das EuG übergeben zu können.[4] Ob eine Entlastung in diesem Umfang tatsächlich eintritt, hängt jedoch – wie immer – von der praktischen Umsetzung ab. Entscheidend dürfte werden, ob sich die Verteilung von Verfahren zwischen den Gerichten als Nadelöhr erweist, und wie sehr die dem EuGH vorbehaltenen Grundsatzentscheidungen mit den Einzelfallentscheidungen des EuG harmonieren.
2. Hohe Hürden für Rechtsmittel greifen auf neue Sachgebiete über
Ein weiteres Element der mit der Reform verfolgten Entlastungsstrategie stellt die Erweiterung des Kreises der EuG-Entscheidungen dar, gegen die ein Rechtsmittel zum EuGH nur dann statthaft ist, wenn es vom EuGH ausnahmsweise zugelassen wurde. Nach dem einschlägigen Art. 58a EuGH-Satzung werden Verfahren, in denen zunächst eine bestimmte unabhängige Beschwerdekammer und dann das EuG über einen Antrag entschieden haben, nur dann auch noch vom EuGH geprüft, wenn mit dem entsprechenden Rechtsmittel „eine für die Einheit, die Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsame Frage aufgeworfen wird“ (Art. 58a Abs. 3 EuGH-Satzung).
Die Neufassung des Art. 58a Abs. 1 EuGH-Satzung behält diese Grundkonzeption bei, dehnt aber den Kreis der einbezogenen unabhängigen Beschwerdekammern erheblich aus. Erfasst sein werden fortan auch Verfahren mit Bezug auf Entscheidungen:
- des Einheitlichen Entwicklungsausschusses,
- der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde,
- der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde,
- der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung und
- der Eisenbahnagentur der Europäischen Union.
Mit der Erweiterung des Zulassungsvorbehalts auf diese Fallgruppen geht für die Praxis eine nicht unerhebliche Verkürzung der Rechtschutzmöglichkeiten einher. Aufgrund der hohen Hürden für die Zulassung des Rechtsmittels (Art. 58a Abs. 1, 3 EuGH-Satzung) ist damit zu rechnen, dass über Klagen gegen Entscheidungen dieser Beschwerdekammern (insbesondere auf dem Gebiet des Bankaufsichtsrechts) demnächst im absoluten Regelfall vor dem EuG letztinstanzlich entschieden wird: Im Zeitraum 2019-2023 führten lediglich sieben von insgesamt 216 Zulassungsanträgen an den EuGH zur Zulassung des Rechtsmittels, was einer Erfolgsquote von gerade einmal 3 % entspricht[5].
3. Schriftsätze sollen veröffentlicht werden – oder auch nicht
Eine weitere Neuerung zielt schließlich auf den Umgang mit den in laufenden Verfahren eingereichten Schriftsätzen und schriftlichen Erklärungen der Prozessbeteiligten. Diese sollen zur Erhöhung der Transparenz des Verfahrens (vgl. Erwägungsgrund 4 Satz 1 der Änderungs-Verordnung) gemäß Art. 23 Abs. 3 EuGH-Satzung n. F. nach Abschluss des Verfahrens fortan auf der Website des Gerichtshofs veröffentlicht werden. Die im Ursprungsentwurf des EuGH noch nicht enthaltene Neuregelung geht auf die Initiative des Europäischen Parlaments zurück. Der gegen den Passus von Seiten etlicher Mitgliedstaaten mobilisierte Widerstand[6] konnte mit der Zusicherung überwunden werden, dass (i) jeder Beteiligte die Möglichkeit hat, der Veröffentlichung zu widersprechen, (ii) dieser Widerspruch nicht begründet werden muss und (iii) vor dem EuGH unanfechtbar ist (so nun auch ausdrücklich Art. 96 Abs. 3 Satz 2 EuGH-VerfO n. F.). Der Widerspruch ist innerhalb von drei Monaten nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens anzubringen (Art. 96 Abs. 3 Satz 2 EuGH-VerfO n. F.). Nach Fristablauf muss mit einer (zeitnahen) Veröffentlichung der Dokumente gerechnet werden, zu denen kein Widerspruch erhoben wurde. Ein „verspäteter“ Widerspruch ist zwar zeitlich ohne Begrenzung möglich, führt allerdings – naturgemäß – nur dazu, dass die bis dahin (möglicherweise) schon öffentlich einsehbaren Dokumente wieder von der Internetseite des EuGH entfernt werden (Art. 96 Abs. 3 Satz 5 EuGH-VerfO n. F.). Der Widerspruch als solcher wird in beiden Fällen auf der EuGH-Website veröffentlicht (Art. 96 Abs. 3 Satz 3 EuGH-VerfO n. F.).
Trotz der mit einem veröffentlichten Widerspruch einhergehenden faktischen „Prangerwirkung“ ist davon auszugehen, dass insbesondere die Parteien des Ausgangsrechtsstreits überwiegend von ihrem Widerspruchsrecht Gebrauch machen dürften, um ihre Prozessstrategie und sensible Informationen in den Stellungnahmen nicht der Öffentlichkeit preiszugeben. Erhöhten (politischen) Rechtfertigungsdruck könnte die Regelung allerdings auf beteiligte Unionsorgane und (einige) Mitgliedsstaaten auslösen.
II. Zusammenfassung – Was ist zukünftig zu beachten?
- Auf gewissen Sachgebieten wird zukünftig das EuG im Regelfall über eingehende Vorabentscheidungsersuchen entscheiden. Das gilt für bedeutende Teile des unionalen Zoll- und Steuerrechts, den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten und Ausgleichs- sowie Unterstützungsleistungen nach der Fluggastrechte-Verordnung. Es bleibt abzuwarten, ob hierdurch wirklich Effizienzgewinne entstehen. Für die Parteien des jeweils vorgelegten Verfahrens ändert sich durch die neuen Zuständigkeitsregelungen indes nicht viel.
- Der Rechtsmittelweg gegen die Entscheidungen qualifizierter Beschwerdekammern bestimmter europäischer Agenturen und Behörden (etwa auf dem Gebiet des Bankaufsichtsrechts) wird faktisch verkürzt. Zukünftig wird regelmäßig das EuG die „letzte Station“ sein.
- Schriftsätze in Vorabentscheidungsverfahren werden zukünftig nach Abschluss des Verfahrens auf der Internetseite des EuGH veröffentlicht, sofern der Veröffentlichung nicht (fristgerecht) widersprochen wird.
[1] Das Schreiben des Präsidenten des Gerichtshofs vom 30. November 2022 und die ihm beigefügte Antragsbegründung sind u.a. als Anlage zum Rats-Dokument 15936/22 veröffentlicht.
[2] Die ausgewählten Rechtsgebiete betreffen einzelne konkrete Rechtsakte, zu denen bereits reichhaltige Rechtsprechung existiert und auf die eine hohe Anzahl an Verfahren entfällt, vgl. dazu die Begründung des EuGH (o. Fußn. 1), S. 4 f.
[3] Vgl. die Rechtsprechungsstatistiken des Gerichtshofs im Jahresbericht 2023, dort S. 6.
[4] Nach Angaben des EuGH insgesamt 631 der zwischen Januar 2017 und September 2022 erledigten Verfahren; 20,82 % der in diesem Zeitraum erledigten Rechtssachen, s. Begründung des EuGH (o. Fußn. 1), Anhang 3, S. 20 f.
[5] Rechtsprechungsstatistiken 2023 (o. Fußn. 3), dort S. 28.
[6] S. die gemeinsame Erklärung Frankreichs, Griechenlands, Italiens, Maltas, Österreichs und Zyperns, in: Protokoll des Rates vom 19. März 2024, Rats-Dokument 8145/24, Anh. S. 5; Rats-Dokument 7296/24 ADD 1, S. 2 unter Bezugnahme auf ein Schreiben des EuGH-Präsidenten Lenaerts vom 11. Januar 2024, Rats-Dokument 5380/24, S. 2-3.
Die Reform der EU-Gerichtsverfassung Vorabentscheidungsverfahren am EuG, Ausweitung der zulassungspflichtigen Rechtsmittel und ein Quantum Transparenzgewinn
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